Lernen ist selbstorganisiert

In einer Diskussion stiess ich wieder einmal auf die Unschärfe des Begriffs «Selbstorganisiertes Lernen». Während es für die einen eine zentrale Kompetenz für das lebenslange Lernen ist, verstehen andere darunter eine Methode, die in Lernlandschaften angewendet wird und dazu neigt, viele Lernende zu überfordern.

Nach einem Gespräch wollte ich mein digitales Netzwerk aktivieren und fragte in der Facebook-Gruppe «Selbstorganisiertes Lernen» folgendes

Der erhoffte Dialog blieb aus. Einzig Andreas Sägesser hat mir auf meine Frage geantwortet. Es scheint, als wäre ich mit der Frage in eine Falle getappt, welche einen Dialog verhindert. Zum Nachdenken hat mich das zusätzlich gebracht.

Was ist Selbstorganisiertes Lernen

Wikipedia hilft mir nicht dabei Klarheit in dieser Frage zu erlangen. Der Begriff «Selbstorganisertes Lernen» wird zu «Selbstgesteuertes Lernen» umgeleitet. Das «Selbstgesteuerte Lernen» wird mit Ursprüngen der Lerntheorien, insbesondere der sozialen Lerntheorie von Bandura in Verbindung gebracht. Im Abschnitt «Einteilung» ist dann aber zu lesen:

«Allgemein meint der Begriff des selbstbestimmten Lernens, dass lernende Kinder oder Erwachsene über die Ziele und Inhalte, über die Formen und Wege, Ergebnisse und Zeiten sowie die Orte ihres Lernens selbst entscheiden.
Wenn Lernende bei vorgegebenen Inhalten und Zielen ihr eigenes Lernen selbst steuern und Entscheidungen über die Art und Weise ihrer Lernorganisation fällen, so spricht man besser vom selbstorganisierten Lernen als vom „selbstbestimmten Lernen“.»

Wikipedia, 17.9.2020

Danach folgen in einer zufällig wirkenden Auflistungen Methoden und Unterrichtsettings, die dem Begriff zugeordnet werden. Die Autoren des Artikels scheinen sich nicht einig zu sein.

Anders sieht es unter dem Begriff «Selbstorganisation» aus. Da ist einleitend zu lesen:

Selbstorganisation ist das spontane Auftreten neuer, stabiler, effizient erscheinender Strukturen und Verhaltensweisen (Musterbildung) in offenen Systemen.

Wikipedia, 17.9.2020

Selbstorganisiertes Lernen: mein Verständnis

Mein persönliches Verständnis kommt aus diesem Kontext: Lernen verstehe ich als selbstorganisierten Prozess, der abhängig von gegebenen Hirnstrukturen, psychologischen Mustern und Emotionen in jedem Menschen individuell abläuft. Die Wirklichkeit wird individuell konstruiert. Dieser Prozess ist nie identisch und wird von der Wissenschaft erst oberflächlich verstanden. Das Lernen organisiert sich selbst im komplexen System unseres Verstandes.

Weitere Interpretationen

Die erste Antwort auf meine Frage sieht ebenfalls den Bezug zur Selbstorganisation komplexer Systeme:

Durch Sägi habe ich mich auf den Weg gemacht, mehr über das Lernen wissen zu wollen. Noch immer schafft er es, diesen Prozess immer wieder neu anzuregen.

Fabian Grolimund, mein liebster Lerncoach, schreibt auf seiner Seite:

Selbstorganisiertes Lernen ist kein Allerheilmittel und schon gar keine Garantie für erfolgreiches Lernen. Damit diese Lernform effektiv ist und die Schüler motiviert mitarbeiten, muss sie sorgfältig eingesetzt werden

Mit Kindern lernen, 17.9.2020

Er nimmt ebenfalls wahr, dass unter selbstorganisiertem Lernen meist eine Lernform verstanden wird.

Auch die PH Bern und die Mosaik-Schulen interpretieren das «Selbstorganisierte Lernen» in diese Richtung:

In enger Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen der Mosaikschule, Dozierenden der Sekundarstufe 1 (IS1) und des Instituts für Heilpädagogik(IHP) sowie Studierenden, werden die bestehenden Strukturen und Praktiken des SOL-Unterrichts analysiert und gezielt weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklung geschieht einerseits entlang der SOL-Fächer, indem sich Tandems von Dozierenden aus dem IS1 und dem IHP regelmässig mit den jeweiligen Fachteams der Schule treffen und gemeinsam geeignete Aufgabenstellungen und Settings entwickeln, die das SOL in den heterogenen Klassen fördern.

PH Bern, 17.9.2020

Philippe Wampfler hat sich vor ein paar Jahren ebenfalls diese Frage gestellt. Er kam zu einem ähnlichen Schluss: Der Begriff kommt aus einem wissenschaftlichen Kontext, aus der Neurobiologie und der Chaostheorie und wird dort beschreibend angewendet. Gleichzeitig sah er ebenfalls die Angst vor einer Unterrichtsgestaltung mit demselben Namen, die stark mit den persönlichen Lernerfahrungen verbunden wird.

Ein kleiner Unterschied

Meine ursprüngliche Frage nach selbstorganisiertem Lernen kam aus dem Bedürfnis zu klären, ob es hilfreich ist, ihn in der Kommunikation einer Schule einzusetzen. Beim Schreiben ist mir aufgefallen, dass ein kleiner Unterschied in der Formulierung einen grossen Einfluss auf die Aussage hat. Häufig wird davon gesprochen, dass selbstorganisiertes Lernen wichtig ist oder dass selbstorganisiertes Lernen gemacht wird. Lernen ist selbstorganisiert, es kann nicht selbstorganisiert gemacht werden. Daher ist weniger die Frage, ob selbstorganisiertes Lernen sinnvoll ist, sondern wie wir der Selbstorganisation des Lernens begegnen können und wollen.

Wie begegnen wir den selbstorganisierten Lernprozessen?

Diese Frage stelle ich mir fast täglich. Ich kann mir immer weniger vorstellen, wie der 7G-Unterricht (Alle gleichaltrigen Schüler haben zum gleichen Zeitpunkt beim gleichen Lehrer im gleichen Raum mit den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut zu erreichen) eine erfolgreiche Strategie sein kann. Ob dieser 7G-Unterricht im Klassenzimmer oder in einer Lernlandschaft stattfindet, macht keinen wesentlichen Unterschied. Ganz persönlich habe ich folgende Gelingensbedingungen identifiziert, welche selbstorganisierte Lernprozesse möglichst wirksam und zielgerichtet werden lassen:

Gelingensbedingungen für Lernprozesse
  • Positive Emotionen
    Selbst Hattie betont die Beziehung der Lehrperson zu den Lernenden als einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Eine positive Beziehung löst positive Emotionen aus. Die Hirnforschung bestätigt den Zusammenhang zwischen Lernen und Emotionen. Sie sind wesentlich an der Speicherung, Verfestigung, sowie am Abrufen und Erinnern von Wissen beteiligt.
  • Persönliche Bedeutung
    In der Didaktik wird von Lebensweltbezug gesprochen. Deshalb versuchen viele Lehrpersonen Themen zu finden, die ihrer Meinung nach spannend sind für die Lernenden. Dies hat wenig mit persönlicher Bedeutung zu tun. Nicht alle Mädchen interessieren sich für Anna und Elsa, nicht alle Jungs hören Hip-Hop. Persönliche Bedeutung kann nur jeder für sich bestimmen und alles kann etwas bedeuten, sogar, dass ich nun endlich richtig Französisch lernen will, einfach, weil ich es kann.
  • Lernen sichtbar machen
    Unseren eigenen Kompetenzzuwachs erkennen wir erst, wenn wir ihn für uns selbst sichtbar machen können. Wie sonst können wir überhaupt über Kompetenzen reden?
  • Lernen reflektieren
    Durch das Reflektieren von Lernprozessen können wir die Selbstorganisation unserer Lernprozesse im Ansatz verstehen. Wir können uns herantasten an erfolgreiche Strategien und können erfolglose immer öfters meiden. Ich sehe keine andere Strategie, das eigene Lernen zu stärken.
  • Vernetzt lernen
    Wir lernen nebeneinander, voneinander und miteinander. Als soziale Wesen können wir uns gegenseitig stärken, ermuntern, aufbauen, erklären, trösten und noch so vieles mehr. Natürlich kann ich ganz allein lernen, doch weshalb sollte ich das tun?

Ganz konkret

Das Ziel dieses Blogs ist es, konkrete Einstiege und Möglichkeiten für die Entwicklung des eigenen Unterrichts zu bieten. Auch nach dieser theoretischen Fragestellung möchte ich zu möglichst konkretem einladen:

Unsere Haltung dem Lernen gegenüber und unsere Vorstellungen von wirksamem Unterricht sind geprägt von unseren persönlichen Erfahrungen. Der Beginn der Änderung des Unterrichts kann nur in der Überprüfung der eigenen Haltung beginnen. Wie lerne ich selbst? Finde ich erfolgreiche, persönliche Lerngeschichten, welche nichts mit diesen Gelingensbedingungen zu tun haben oder gerade solche, welche sie bestätigen? Berücksichtige ich diese Bedingungen in meinem Unterricht oder möchte ich dies mehr tun? Wie kann ich mehr positive Emotionen oder mehr persönliche Bedeutung ermöglichen? Wie viel Zeit meines Unterrichts investiere ich, um Lernprozesse zu reflektieren, um über Lernen zu sprechen?

Und wer Lust dazu verspürt kann endlich einen eigenen Wikipedia-Artikel über «Selbstorganisiertes Lernen» verfassen.

One thought on “Lernen ist selbstorganisiert”

  1. Guten Morgen
    Ich habe diesen Artikel mit grossem Interesse gelesen. Dabei beissen sich nach meinem Empfinden die Begriffe «Lernen sichtbar machen», «Lernen reflektieren» und «Vernetzt lernen» im Kontext des Artikels. LuL wollen/können und SuS dürfen ihr Lernen gar nicht sichtbar machen – zu reflektieren gehört auch «reflektieren lassen» – und zu «vernetzt lernen» lernen gehören auch nur virtuell anwesende/erreichbar Lernpartner.
    Bedeutet: Selbstorganisiertes Lernen setzt eine orts-, zeit- und lernpartner-unabhängige Lernumgebung voraus. Weil das niemand will/kann, existiert nicht einmal ein Wikipedia-Artikel.

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